Originaldokument, in dem Fanny Augenstein auf das Sterbegehalt ihres Mannes zugunsten der Schwägerinnen verzichtet; Q: pdf-Generallandesarchiv Karlsruhe S. 335/428
Teil 6 von 12: Fanny Augenstein verzichtet auf das "Sterbegehalt" ihres Mannes
Binnen kürzester Zeit waren demnach jegliche Rücklagen und Ersparnisse von der Inflation aufgefressen. Das Jahr 1923 war das schlimmste Inflationsjahr, das die Weimarer Republik jemals erlebt hatte. Besonders hart waren die Staatsbediensteten und Beamte betroffen (vgl. www.planet-wissen.de).
Im vorliegenden Fall heißt das, dass für die Witwe Fanny Augenstein, geborene Siegl, die eheliche Verbindung mit Dr. Leopold Augenstein nach zwölf Tagen völlig mittellos beendet sein sollte.
So erklärt sie in einem Brief:
"Baden-Baden Lichtenthal, 19.9.1922, Hauptstraße 25 Badisches Justizministerium Karlsruhe
Ich bevollmächtige hiermit meine Schwägerin Fräulein Lina Augenstein, wohnhaft Westendstraße 4 in Karlsruhe, das mir infolge Ablebens meines Mannes, Ministerialrat Dr. Augenstein zustehende Sterbegehalt für mich in Empfang zu nehmen. Mit vorzüglicher Hochachtung Frau Fanny Augenstein, Witwe, geb. Siegl"
Es können nunmehr verschiedene Spekulationen über die Gründe dieses sehr ungewöhnlich anmutenden Vorgehens der Schwägerinnen angestellt werden.
Folgende Fragen könnten sich ergeben: 1. Warum hat Fanny diesem Handel zugestimmt? Eventuell fühlte sie sich durch das sichere Einkommen ihres Vaters in finanzieller Hinsicht abgesichert. Er war seit 1913 pensioniert und ist am 8.2.1919 verstorben. Als ehemaliger Geheimer Finanzrat hatte er sicherlich eine angemessene Pension, sodass auch seine Witwe und die Tochter von der Witwenrente ein gutes Auskommen haben konnten. Dass die Inflation im Jahre 1923 alle finanziellen Sicherheiten zerstören würde, konnte zu jenem Zeitpunkt wohl kaum jemand erahnen. 2. Handelte es sich eventuell um einen schon vor der Hochzeit vereinbarten Handel zwischen Leopold, Fanny und den beiden Schwestern beziehungsweise Schwägerinnen? Wollte der Jurist, "Euer Hochwohlgeboren", mit der Verheiratung nur Sorge dafür tragen, dass seine beiden Schwestern nach seinem Dahinscheiden mithilfe seiner Pension finanziell versorgt sind? Diese Variante ist denkbar. Allerdings hat dann das Schicksal insofern einen Strich durch diese "Rechnung" gemacht, als Dr. Augenstein sehr bald nach der Hochzeit verstorben ist. Nach dem bereits erwähnten Paragraf 60 des Beamtengesetzes hätte die Ehe mindestens drei Monate bereits bestehen müssen, damit die Witwe einen Pensionsanspruch erwirbt. Insofern ist dann der Plan einer "indirekten Versorgungsehe", also zugunsten der Schwestern, ziemlich misslungen. 3. Hat Fanny dieser Vorgehensweise völlig freiwillig zugestimmt? 4. Haben es ihr die "Schwägerinnen" vielleicht übelgenommen, dass sie "ihren" Bruder geheiratet hat und ihnen damit die Altersversorgung eventuell versagt bleiben würde? 5. Nahmen sie es Fanny übel, dass sie, als die Cousine und damit sehr nahe Verwandte, überhaupt in eine solche Beziehungsform einwilligte? 6. Gab es eventuell ein gewisses soziales Gefälle zwischen den Schwestern und der Tochter des Geheimen Finanzrates Siegl? 7. Hat die Witwe Augenstein vielleicht die beiden Schwestern "von oben herab" betrachtet und sich selbst als "etwas Besseres" gesehen?
Weitere Fragen und mögliche Antworten seien dahingestellt. Es können keine schlüssigen und belegbaren Antworten mehr gegeben werden. Weiterhin bleibt bis heute unklar, weshalb die Ehefrau von Dr. Augenstein nicht für sich selbst das Liegerecht in dem Familiengrab in Bietigheim bezahlt bzw. verlängert hat und nicht in derselben Grabstätte wie ihr Mann beigesetzt wurde. Fanny Augenstein wurde nämlich im Jahre 1935 auf dem Friedhof Altstadt in Baden-Baden beerdigt.
Text: Hermann Schmitt